Während der Proben für Indien fuhr ich täglich etwa zweimal mit dem Rad in der Hamburger Innenstadt durch ein Wäldchen mit Wahlplakaten. Unter anderem war dort wohl 30 Mal pro Tour zu lesen: »Glaube, Liebe, Hoffnung, Vaterland – Darauf sind wir (noch) stolz«. Das war jedesmal ein gespenstisches Erlebnis, eine Art Geisterbahnfahrt.

Es gibt ein Stück von Ödön von Horvàth mit gleichlautendem Titel: Glaube, Liebe, Hoffnung, und in einer Randbemerkung dazu schreibt er, jedes seiner Stücke könne so heißen. Das Vaterland fehlt im Titel, ist aber jeweils der Spielort – deutsche und österreichische Klein- und Großstädte, in denen der Glaube vielfach benutzt wird, Menschen lieblos miteinander umgehen und in denen ihre Situation, sozial und finanziell, völlig hoffnungslos ist. Alle diese Stücke beschreiben den Abgrund zwischen dem, was ist, und dem kitschigen Traum von der heilen Welt; und die entleerte Formel »Glaube Liebe Hoffnung« davorgesetzt wirkt auf mich immer boshaft, hilflos und wie mit einem verzweifelten Lachen mir zugeraunt.

Das Stück ist 1932 geschrieben, also 65 Jahre alt. Aber da stehen diese drei Worte wieder auf Schildern an der Straße – ungebrochen, ernstgemeint, groß, stolz und dumm – eben gespenstisch.

Das ist natürlich eine theatralische Betrachtungsweise, aber das Theater ist eines der wenigen Orte, wo noch Gespenster zu sehen sind, und zwar als Gespenster erkennbar. Gespenster sind dort zu Theaterfiguren gewordene ungelöste Fragen.

Bei Shakespeare gibt es immer wieder Gespenster, in Macbeth, in Hamlet, Ibsen hat eines seiner Stücke Gespenster genannt, Strindberg eines Gespenstersonate. Es gab eine ganze deutsche Literaturepoche, die hauptsächlich von Gespenstern bevölkert war. Als nach dem Sieg über Napoleon die letzten Errungenschaften der Französischen Revolution in Mitteleuropa beseitigt waren, finden sich in der Literatur lauter Untote – wie bei E. T. A. Hoffmann zum Beispiel – ein äußerst realistisches Zeitempfinden!

Ein anderer historischer Text beginnt mit den Worten: »Ein Gespenst geht um in Europa«, und Heiner Müllers letztes Stück heißt demnach auch Germania 3. Gespenster am toten Mann, denn es kreist um die fiktive Frage von Ernst Thälmann: »Was haben wir falsch gemacht?« Die Frage nach dem Niedergang der sozialistischen Idee, nach der Auflösung der DDR.

Fragen – und keine Antworten. Da, wo allerseits abgewickelt wird, muß das Theater stur wieder aufwickeln. Das ist, was ich am Theater vielleicht am meisten schätze – wie eine Probe für einen Schauspieler kann eine Aufführung für die Zuschauer eine Zeit sein, in der sie sich in Ruhe Fragen überlassen können, ohne mit Antworten bombardiert zu werden. Insofern ist Theater ein utopischer Ort. Denn vor dem Theater lauern sie schon wieder, die angeblichen Lösungen: Für Kasimir und Karoline wäre es JEDER STADTTEIL BEKOMMT SEINE EIGENE POLIZEISTATION, für Katzelmacher wäre es KRIMINELLE AUSLÄNDER ABSCHIEBEN, für Germania 3 wäre es WIR SIND STOLZ AUF UNSERE DEUTSCHEN SOLDATEN. Je komplizierter die Fragen, um so unsäglicher die angebotenen Antworten.

Und nicht nur auf Plakaten – in den Medien, in der Werbung – alle tun so, als wüßten sie, wie’s geht.

Die Beschäftigung mit Gespenstern ist da unangenehmer, und Theater muß unangenehm sein. Viele der Autoren, deren Texte wir spielen, haben weder angenehm gelebt noch gedacht. Die meisten Autoren, die die Deutschen als ihre Klassiker empfinden, sind ungeliebt, ohne Hoffnung und nicht als Klassiker gestorben – im Exil, wie Horvàth, im Suff, in angeblichem Wahnsinn, durch Selbstmord. Vor Jahren wurde in Hamburg der Wunsch öffentlich geäußert, man wolle seine Klassiker bitte auch wiedererkennen. An diesen Texten gibt es nichts wiederzuerkennen, aber es lohnt sich, sie immer wieder zu erkennen.

Ich kannte diese Texte wie wohl viele als Schulstoff, als Bildungsgut, aber erst als ich entdeckte, daß sie gefiltertes gelebtes Leben mit allen ungelösten Fragen und aller Verzweiflung der Autoren sind, erst da begann ich mit ihnen in Kontakt zu treten, auf Tuchfühlung sozusagen. Theater ist eine Zeitmaschine.

Wenn dieses Schmerzhafte, auch das schmerzhaft Komische, im Theater überspielt wird, ist mir immer so, als solle ich überredet, bequatscht, von etwas abgelenkt werden. Ich empfinde das für beide Seiten als peinlich, viel unangenehmer als einen theatralisch nicht gelungenen Abend.

Die Fragen sind selten neu und nie originell. Die Frage Arbeitslosigkeit ist vielleicht 150 Jahre, das Stück Kasimir und Karoline 66 Jahre alt, die Frage Macht und Widerstand ist sicher älter als die Antigone des Sophokles. Es ist ein großer Vorteil des Theaters, daß es nicht neu und nie originell sein muß. In einer Welt, in der fast alles käuflich ist, kann es nicht so sinnstiftend sein wie Wahlplakate, aber es kann vorführen, daß fast alles käuflich ist – auch gar nicht originell.

Also unzeitgemäß? Natürlich. So unzeitgemäß wie ein Gehirn, wo es Computer, wie eine Hand, wo es Maschinen, und wie ein Gefühl, wo es Tamagotchis gibt.

Es gibt ja so berühmte Frager-Figuren: Hamlet, Faust, Ödipus. Sie wissen, irgendwas ist faul, und nur ihre Fragerei setzt eine Handlung in Gang, oder steigert sie zur Katastrophe. Kinder können oft sehr gut, sehr störrisch fragen: Wieso? Weshalb? Warum so? Warum nicht so?

Im Fatzer-Fragment von Brecht, einem der für mich wichtigsten Texte, mit denen ich zu tun hatte, ist es so formuliert: »Und was euch nichts / Ausmacht: daß der Regen / Von oben nach unten fällt, / Das ist mir / Ganz unerträglich. Daß im / Alfabet / Nach A B kommt und nichts / Sonst, euch ists recht / Aber mir ists ganz ärmlich«. Fatzer stellt, als Deserteuer aus dem ersten Weltkrieg auf die Revolution wartend, mehr und mehr alles in Frage, mit seinem Verhalten, seinen Gedanken, seiner ganzen Person, und seine drei Genossen beschließen endlich, ihn im Interesse der großen Sache hinzurichten, mit einer sehr logischen, sehr absurden Begründung. Und kurz vor seiner Erschießung sagt er: »Und von jetzt ab und eine ganze Zeit über / Wird es keine Sieger mehr geben / Auf eurer Welt sondern nur mehr / Besiegte«.

Keine Fragen mehr – auch eine Art Gespenst am toten Mann.

»Aber irgendwann muß doch mal Schluß sein mit der Wühlerei« – und da ist er wieder, der Wunsch nach der runden Sache, danach, daß alles wieder in Ordnung kommt, nach GLAUBELIEBEHOFFNUNG. Nur das Wissen, daß Schlußstriche eben nur Striche sind, birgt auch die Utopie, daß nie ein Schluß sein wird. Dem Theater bleibt nichts anderes, als alles Abgewickelte immer wieder aufzuwickeln.

Schauspielhaus-Magazin Nr. 17, Hamburg 1997