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   Michael Weber

___ANOTHER TIME -- ANOTHER PLACE

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     Michael Weber liest
     Another Time -- Another Place

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     SAME TIME SAME PLACE              -->FILM
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1  Es war kurz vor dem Krieg, als sich meine Gedanken wieder mal in der ewig gleichen, mir schon bis zum Überdruss bekannten Bewusstseins-Sackgasse festgefahren hatten. So ein ermüdetes Denken oder besser ein Denken aus Erschöpfung, natürlich genauso erstaunlich dumm wie erstaunlich lebhaft und widerstandsfähig. Langsam waren sie eingeschwenkt, die Gedanken, in Richtung: FEHLER, also "Dies und das falsch gemacht", "Das und jenes verpasst", um dann zunehmend Gas zu geben -- trotz aller Hinweisschilder links und rechts der Denkautobahn, der riesigen Tafeln mit den Aufschriften: "Hier auf keinen Fall weiterdenken!" oder "Das führt zu nichts! Sofort abbiegen!", hatten dann -- Bleifuß! -- mit eiserner Konsequenz einen furiosen Endspurt hingelegt und sich schließlich nach einer Vollbremsung -- Kolbenfresser -- festgesetzt und verbarrikadiert mit dem unbeirrbaren Wissen: Mein ganzes Leben ist ein einziger Fehler. Das war das.
   Die Rettung aus diesem Dumm-Denken der ewigen Selbstbezichtigungen war dann Peters Anruf, in dem er mir sein Apartment in Brooklyn für zwei Wochen anbot, sozusagen Wechsel des geistigen Klimas. Peter hatte ich vor einigen Jahren in Bochum kennengelernt -- ein schwarzer Tänzer, ein schöner Mann und ein schöner Mensch --, und diese Geste der Gastfreundschaft und der praktischen Hilfe war genau ein Ausdruck dessen, was ich meine, wenn ich "schöner Mensch" denke. Geistige Pannenhilfe, um im Bild zu bleiben, und zwar ohne dass man Mitglied sein, gewesen sein oder sofort werden muss. Sehr, sehr angenehm.
2  Habe mich dann auch sofort selbst überrascht, indem ich übergangslos bester Dinge war, ankommend am Flughafen JFK -- schon wieder verdächtig --, und musste anschließend herzlich lachen über die Erbärmlichkeit meines eigenen Elends. Dann der Gedanke: Nicht mal im Leiden erreiche ich eine heroische Größe, bleibt alles eher lächerlich. Schon wieder Zweifel, und nach zu vielen Zigaretten gleich am ersten Tag und einigen Dosen Bier der Verdacht: Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit -- jaja. Das ist wahrscheinlich das Maß an Selbstgefährdung, zu dem ich gerade mal so noch in der Lage bin.
   Nun war ich also weg, also raus, also hier -- was jetzt?
3  Peter hatte mich noch bei der kurzen Schlüsselübergabe am Flughafen, er vor seinem Abflug, ich nach meiner Ankunft, auf das Päckchen hingewiesen, das er auf dem Tisch habe liegen lassen. Sein Vater würde mich anrufen deswegen; ich solle es ihm zukommen lassen, wenn ich Zeit dafür fände, es sei zwar nicht für ihn, aber sein Vater würde es weiterleiten; das wäre eine gute Gelegenheit für den Alten, mal den Arsch aus der Wohnung zu bewegen. Oder eine Freundin würde sich selbst drum kümmern. Das wiederum wäre gut für mich, denn ich würde in dem Fall die schönste Frau New Yorks kennenlernen -- vielleicht die Frau meines Lebens. Im Übrigen sei das alles aber auch vollkommen unwichtig, ich könne das Ding auch einfach in den Müll werfen.
   Ich habe das Ganze ehrlich gesagt nicht so recht verstanden. Ich hatte den Eindruck, er wolle mich aus Höflichkeit beschäftigen in NY, mich unter die Leute bringen, meet people, get in touch with usw. Ich war gerührt und auch verwirrt, denn ich kannte seinen Vater und dessen heilloses Phlegma genauso wie seine chaotische Unzuverlässigkeit, und die Frau meines Lebens hatte ich längst schon kennengelernt -- und Peter wusste das, vermutlich sogar länger und sicherer als ich, denn er hatte in Bochum die erste Zeit sehr daran gelitten.
4  Es ging mir außerdem gar nicht um Gesellschaft, sondern im Gegenteil -- ich freute mich darauf, in sozusagen abgesicherter Anonymität mich treiben lassen zu können. Ich liebe es zu Zeiten, alleine sein zu können, ohne einsam sein zu müssen, und meine Bewegung zwischen möglichst vielen anderen, die sich auf andere Art anderswohin bewegen, ist mir eine unermessliche Erleichterung. U-Bahn-Fahrten in großen Städten bieten in hohem Maße das, was ich an dem Wunsch "Eines zu sein mit allem, was lebt!" immer sofort verstanden habe. Klingt so schwierig, wie es einfach ist. Und in dieser Hinsicht kam mir Peters Päckchen-Auftrag auch wieder sehr gelegen. Ich hätte mir nur gewünscht, mich noch unbestimmter bewegen zu können. Aber ich wußte natürlich da auch noch nicht, dass diese Päckchen-Geschichte kein sogenanntes vernünftiges Ende haben würde, sondern auf angenehme Weise zunehmend zielloser wurde. Im Übrigen -- vielleicht hatte Peter auch das beabsichtigt. Kann sein -- ich muss ihn mal danach fragen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Wenn ich ihn sehe, denn er hatte mir auf dem Flughafen auch gesagt, dass es ihm "den Umständen entsprechend" sehr gut gehe, er aber damit rechne, dass die Vorstellungen in Vancouver seine letzten sein würden.
5  Peters Vater, James Wasp, hatte ich vor fünf Jahren kennengelernt, als er Peter in Bochum besuchte -- allein, die Mutter hatte sich in ihrer New Yorker Wohnung verbarrikadiert und traute sich gar nicht mehr raus. Eine Woche konnte er bleiben, für eine Woche reichten die Vorräte im Kühlschrank in Brooklyn. Ein milder, freundlicher alter schwarzer Herr, leichter Silberblick, mit dem klassischen Opernsänger-Ausdruck im Gesicht, so ein künstliches Lächeln mit zurückgezogenem Kinn -- und einer sozusagen wattierten Stimme. Tenor, glaube ich. Er nutzte die Gelegenheit zu feiern, ab fünf war er duhn, ab sieben abends löste sich seine gesamte Kontur zusehends auf, der immer korrekte Anzug verzog sich, er sprach langsamer und leiser, das Halstuch -- sowas heißt, glaube ich, Plastron -- nahm die Flüssigkeiten aus Nase, Mund und Augen auf, die Brille saß schief. Aber das Lächeln und die Stimme blieben sehr milde.
   "I know Wagner -- oh yes"
   dann sang er -- ich kenn mich da nicht aus,
   "and Schubert -- I love Schubert songs -- die Mullerin"
   er sang wieder.
   "They never would let me sing the big parts, you know. Because I'm black. After Juilliard School -- We fought the Germans, you know. I was in North Africa. And Brahms. The Death und die Mädschen. I used to sing in smaller opera companies, smaller shows. I performed with --" Namen vergessen, auch nie gehört.
   Er zeigte zwei Fotos, in einer gewellten Plastikhülle in seinem Portemonnaie -- er Arm in Arm mit mir unbekannten Stars.
   "Because we were black. It's getting better now, see: Jesse Owens was the beginning. He was the fastest, the stop-watch told the truth, nobody could say, he's not. But with singing it's different, you know, it's a kind of Mafia." --
   "But I try to keep my voice fresh, you know."
   Und stand noch stolz und gesammelt auf, ging langsam in Richtung Ausgang oder Männerklo und brach auf halbem Weg zusammen, meistens gegen neun, halb zehn -- aber auch das eher milde als dramatisch, sehr mühelos. Peter und ich brachten ihn dann in Peters Wohnung.
   Einen Tag war er verloren gegangen, wirklich wohl "verloren" gegangen, wir fanden ihn auf einer Wiese an der Ruhr, wo er stand und sang:
   "Ol man river, that Ol man river"
   und, als er uns erkannt hatte:
   "Jauchzet, frohlocket, auf, preise-het di-hie Tage!"
   "You know the Christmas Oratory? Oh -- Back! I love Back! even more than Cole Porter!"
6  "Oh Mädchen, stille zu stehn ist schlimmer denn alles" aus Hyperion hat mir immer eingeleuchtet -- könnte natürlich auch eine Parole der deutschen Wirtschaftsverbände und Handelskammern sein oder der Fünfjahrespläne der SU, so eine panzerartige Aufbau- und Fortschrittsbegeisterung -- übrigens: Bund der Steuerzahler -- was ist das überhaupt für ein Wahnsinn? Andererseits -- für mich hat es immer gestimmt. Oder "Flüchten oder Standhalten"; war so ein angeblich wichtiges Buch meiner Jugend, nicht für mich, aber für die Generation davor, die Therapeuten- und Therapierten-Generation, so zehn bis zwanzig Jahre weiter. Habs dann auch nie gelesen, den Titel aber schon damals nicht verstanden. Das ist doch keine Alternative, es geht doch überhaupt nur Standhalten durch Flucht, oder so: Flüchten, um standzuhalten. Diese Denunziation, sich den Unerträglichkeiten wenn möglich zu entziehen, ist auch so ein verblödetes inneres Preußentum, die zur Lebenshaltung gewordene Unflexibilität. Naja -- Flexibilität, auch sehr zweifelhaft: flexibel sein am Arbeitsplatz, zu allem ja sagen und nur nicht mucken, das kann es natürlich gar nicht sein.
   Andersrum muss man denken -- und leben: permanent die Lücke suchen, ganz da sein -- und gleichzeitig noch ganz woanders. Hyperion eben. Obwohl ein Brei natürlich erst gar keine Lücke lässt, der pampt alles zu, der schließt sich sofort wieder -- glatte Oberfläche -- sehr gefragt! Das hier, NY, ist schon mal eine Lücke, natürlich nur ein Ausflug, natürlich bin ich in ein paar Tagen wieder zurück, aber zum Glück dann hoffentlich auch nicht wirklich zurück oder zumindest anders. Hier wirds wirr.
   Innehalten -- innehalten ja, klar -- aber stillestehen -- stimmt schon -- immer noch.
7  Einer meiner Lieblingswitze:
   Ein Mann kommt in eine Bäckerei, sagt: "Ich hätte gern ein Radio." Der Bäcker nickt, holt eine Flinte, schießt in den Kühlschrank und sagt: "So, jetzt ist der Fernseher auch kaputt."
   Den hat mir früher immer Onkel Hermann erzählt, immer wieder, bei jedem Besuch auf dem Land, seinen Liegenschaften, wie er das nannte. Und sein Dackel Max, vor dem ich immer Schiss hatte, strich mir um die Beine. Max war der klägliche Rest einer angeblich legendären Dackelzucht -- Jagddackel --, die Onkel Hermann vor meiner Zeit semiprofessionell betrieben hatte. Er sagte allerdings: Teckelzucht, und ich stellte mir dann immer eine Mischung aus Hunden und Topfdeckeln vor, und das scharfe T, das Onkel Hermann auch besonders scharf und feucht aussprach, klang unangenehm bissig und zuschnappend. So eine Rotte kläffender, blutrünstiger Kleintiere in Maschendrahtverschlägen.
   Ist schon tot, der Onkel Hermann aus Itzehoe, wäre wahrscheinlich jetzt so alt wie Peters Vater -- auch Kriegsteilnehmer natürlich, vermutlich Führer einer düsteren deutschen Hundestaffel. Und immer lustig. Hat fast immer gelacht, vor und nach jedem Satz, hat mich damals schon gewundert.
8  Unvorstellbar jetzt gerade hier, in New York, das Leben in Itzehoe -- Planeten entfernt. Hat mich Zeit und Kraft gekostet, aus Itzehoe wegzukommen -- in jedem Sinn. Peter hat in Bochum damals dasselbe beschrieben. Spätestens ab vierzehn, fünfzehn das sichere Gefühl: Raus hier, weg hier, sobald wie möglich. Get out of this Brooklyn neighbourhood! Und natürlich als Kind auch Asthmatiker. Sobald wir raus waren, konnten wir atmen. Andererseits -- was er an seinem Vater gehasst hat, schätze ich -- die souveräne Unzurechnungs- fähigkeit und das milde lächelnde Chaos. Von Itzehoe aus gesehen ist das schon sehr gut. Also wohl doch nicht alles falsch gemacht.
   Naja, da fangen dann allerdings die Schwierigkeiten an. Was sind eigentlich meine Maßstäbe von falsch und richtig? Bin ich auch ferngesteuert oder nicht? Oder merk ich jedenfalls noch, wann ich ferngesteuert bin? Und diese vollkommen wirre Aktion mit dem rosa Päckchen hier -- wofür soll das denn gut gewesen sein? Hat mir natürlich einen angenehmen Tag eingebracht. Aber ist doch absurd. Und was ist eigentlich in dem Ding drin? Und wer hat das eigentlich -- AH! Schluss! Ende! Schluss jetzt -- sofort aufhören!
9  Let's call it a day!

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